Roland Berger: Bild-Entfaltung, April 2002

Die moderne Kunst, die sich wesentlich von der alten Kunst unterscheidet, hat nicht nur die Verschiebung des Anschaubaren der Bilder und der Kunstwerke überhaupt vom Abbild zum Sinnbild und zum Zeichen abstrakter Art vollzogen; die moderne Kunst suchte und fand ihre Ausdrucksweisen, ihre neuartigen künstlerischen Potenzen in der Offenlegung, man könnte sogar sagen in der Offenbarung gestalterischer Prozesse.
Egal, welchem Ismus – als Bezeichnung für ein Stilgepräge – man sich zuwendet, immer entdeckt man eine mit Konsequenz und Hingabe betriebene Methode des Arbeitens, der schöpferisch-künstlerischen Herangehensweise.
Die Vielfalt der Ismen kann für die oft beschworene künstlerische Freiheit stehen. Der Eindruck, dass dabei manches Bemühen wie in einer Sackgasse endet, steht für die Tragik, die sich in der Reibung zwischen Künstler und Gesellschaft ergibt.
Entwicklung vollzieht sich nicht nur im steten Anhäufen von Neuem. Altes muss abgetragen werden. Entwicklung ist Werden und Vergehen.
Picasso sagte einmal, ein Bild entstehe bei ihm aus der Summe der Zerstörungen. Das ist ein aufschlussreicher Satz für die moderne Kunst. Denn mindestens seit dem Impressionismus wird mit der Herausstellung und Propagierung des Individualistischen das Allgemein-Verbindliche von Kunst zurückgedrängt. Das Individuelle feiert sich als das Besondere im Verhältnis zum Allgemeinen. Und wenn gesellschaftliche Umwälzungen zu Umbrüchen und Aufbrüchen auch im ästhetisch-künstlerischen Wertegefüge führen, dann kann der einzelne Künstler nur individuell darauf reagieren.
Und da wird die Sache spannend!

Im Prozess der Infragestellung, Verwerfung und Zerstörung entdeckte die moderne Kunst Aussage- und Ausdrucksmöglichkeiten, die sinnbildhaft und signifikant Rückschlüsse auf das gesellschaftliche Leben zulassen.
Ich nenne drei Begriffe, in bestimmter Reihenfolge, eine Trinität: Chaos – Zufall – Ordnung. Sie begleiten die moderne Kunst. Denn auf irgendeine Weise muss jeder Künstler heute dazu Position beziehen. Es geht um Parteinahme in punkto Erkennbarkeit der Welt, den Umgang mit der Welt und die Fähigkeit, Utopien für diese Welt zu entwickeln. Dies alles und immer aus dem Blickwinkel und dem Ermessen des Künstlers.

Das eben Gesagte ist gewissermaßen die Hintergrundsfolie, vor der wir die Arbeiten Heribert Bückings wahrnehmen sollten.
Aus seinem umfangreichen Werk bietet er uns einen Einblick im Längsschnitt. Es sind auch einige wichtige frühe Arbeiten als Leihgaben zu sehen. Bückings Werdegang wird damit gut dokumentiert.

Heribert Bücking ist einer der wenigen Künstler, die sich der altehrwürdigen Technik des Kupferstichs verschrieben haben. Und er ist in diesem Metier einer der eigenwilligsten und modernsten zugleich.
Die Blütezeit des Kupferstiches war die Renaissance. Von daher kommen auch heute noch die Maßstäbe sowohl für die handwerklichen als auch die künstlerischen Ansprüche. Nur haben sich die Zeiten geändert, und Heribert Bücking ist als Künstler kein Nostalgiker, sondern ein hochsensibler Zeitgenosse. Der Kupferstich kam bei ihm auch erst etwas später ins Blickfeld, nachdem er sich bereits als Zeichner ausgewiesen hatte. Mit wachem Sinn für das Einmalige und Besondere fand und findet er seine Motive bzw. Bildobjekte. Fand er sie anfangs sozusagen als Modellsituation, die zeichnerisch "gebannt" wurde, so findet er sie inzwischen wirklich, hebt die Objekte, die Dinge, auf, hält sie in seinen Händen und trägt sie nach Hause. Das hat etwas mit dem Zufall zu tun. Jeder kennt den Zufall des Findens, geht aber anders damit um. Zufall, das ist die Masche im Gespinst des Chaos unserer Welt, das Zusammentreffen, der Schnittpunkt zweier Vorgänge. Da liegt – wer weiß wie lange – eine zerbrochene Flasche im Kehricht des Straßenrandes. Heribert Bücking findet sie und entdeckt sie. Es ist äußerst bemerkenswert, welche Dinge Eingang in Bückings Bilderarsenal erlangen. Sie haben etwas mit dem menschlichen Leben zu tun. Dafür – zweckgerichtet – wurden diese Dinge einst geschaffen, benutzt und – verbraucht, weggeworfen und vergessen. Nun stehen sie plötzlich vor einem als Metapher für gelebtes Leben. Die Dinge fungieren als Schlüssel zum Menschen und seinem Sein.

Bereits in den frühen Zeichnungen Bückings, die szenischen und situativen Charakter haben, spürt man das Interesse für derartige Verbindungen. In den Darstellungen gibt es oft ein seltsam anmutendes Nebeneinander und Verwachsensein: Da ist die Formanalogie eines menschlichen Ohres mit einem Fensterriegel, der aufgescheuchte Blick der dargestellten Person gewittert in den Tapetenfalten hinterm Kopf weiter, die Komposition einer Kinderzeichnung wiederholt sich im Gesicht usw. Diese beobachteten Zufälle sind in der Realität entdeckt worden. Mit der Konzentration auf einzelne oder wenige Bildobjekte ändert sich der Umgang mit dem Zufall. Man kann ja Zufälle inszenieren und mit ihnen sogar spielen. Heribert Bücking ist diesbezüglich ein Selbst-Provokateur. Hat ein Ding seine Aufmerksamkeit geweckt, dann beginnt mit dem Zeichnen desselben im Atelier das Erfassen und Erkennen, das Erfahren und Ergründen, gewissermaßen eine akribische Untersuchung, einhergehend mit dem zunehmenden Ordnen und Deuten, dem Fügen und Filtern zu einem Bild.
Hier erweist sich Heribert Bücking im Umgang mit dem kargen Medium Bleistift als exzellenter Zeichner. Es ist bewundernswert, wie er die Dinge von den "Spülsäumen" (ein Begriff, den er für die Fundorte seiner Fundstücke gefunden hat) zu einer Bildwelt formt, die bei aller Klarheit plötzlich geheimnisvoll erscheint und nahezu surreal wirkt.

Dieses untersuchende Zeichnen führt zu Entdeckungen, die sich im Zusammenhang mit der Umsetzung in der Technik des Kupferstiches als besonders interessant erweisen. Das zeichnerische und dann in Kupfer gestochene und gegrabene Bildgefüge wird in Segmente zerlegt. Es entstehen befremdliche Bruchstücke, von Positivumrissen bleiben negative Restformen. Mit allen Teilen beginnt nach der Zerlegung, nach dem Auseinandernehmen ein neues Zusammensetzen. Und das ist natürlich nun nicht mehr in nur einem Bilde zeigbar. Es bedarf der "Vorführung" dieses Vorganges. Prozesshaftes ist im Spiel. Das Spiel ist ein Prozess. Logische Konsequenz: Heribert Bücking kommt zum seriellen Arbeiten. Das heißt, es entstehen Abfolgen von Bildlösungen mit einem Anfang und einem Ende, die Sequenzen dazwischen sind vorgestellte, vorgeführte Möglichkeiten individueller Bildlogik, deren es noch mehr und andere gibt.
Für den Betrachter wird somit das Schauen eine sanfte, doch auch nachdrückliche Einladung zum aktiven Nach- und Mitvollzug der Verwandlungen und Umwandlungen. In den Arbeitsreihen wohnt also auch ein kunstpädagogischer Anspruch. Die Bilder entwickeln sich, sie entfalten sich.
Der Titel dieser Ausstellung, mit Bedacht gewählt, ist absolut zutreffend.

Mit dieser Vorgehensweise, den Prozess der künstlerischen Bildfindung zu öffnen, zugänglich und erklärbar zu machen, gelingt Heribert Bücking das Wunder, Zufall und Ordnung zu vereinen, ja zu versöhnen und im Spiel zu verschwistern. Nebenbei knüpft er Querverbindungen zwischen mehreren Kunstkonzepten des 20. Jahrhunderts: Das kubistische Zergliedern und Zusammenfügen trifft sich mit der freundlichen Absurdität dadaistischer Prägung, Konstruktivismus steht ebenso Pate wie die seriell-konkrete Kunst.

Und noch etwas kommt hinzu: Im Rahmen der meisterhaft gedruckten Stiche mit ihren strengen Schraffuren und dem Relief der tiefen Prägungen in den schweren kostbaren Papieren verblüffen die raffiniert eingeklebten Zitate. Es ist eine Collagetechnik, die mit dem Drucken gemeinsam erfolgt. Die Collageelemente basieren oft auf Dokumenten, die wieder eine andere Ebene an Authentizität ins Bild bringen. Bücking fabriziert sie für seine Auflagendrucke im Feld der Möglichkeiten, die die heutige Kopiertechnik bereithält. So ergänzen diese Zitate die Sinnebene der Dinge, kontern die Semantik, provozieren formale Kontraste. Damit weitet sich das Bezugssystem aus. Es wird ein modernes Wechselspiel begrifflicher Kombinatorik, und zudem noch extra reizvoll, wenn der Künstler – hintergründig und mit verschmitztem Humor – bei den Bild- und Serientiteln auf intelligente Wortspiele setzt. Was ist denn eine KOPF – BAU – STELLE, ein TELLER – GABEL – UFO?

In Zeiten medialer Überflutung und einer allgemeinen Bildermüdigkeit sind die Arbeiten Heribert Bückings besondere Gesinnungs- und Besinnungsstücke druckgrafischer Kunst. Sie sind Labsal für Seele und Verstand.

April 2002, Roland Berger

Redetext zur Eröffnung der Ausstellung "Bildentfaltung" – Zeichnungen und Kupferstiche von H. Bücking, Studio im Hochhaus (Berlin-Hohenschönhausen), 12.4.2002