Klaus Bodemeyer: Transformationen, Mai 2013

Seine in Jahrzehnten künstlerischer Arbeit gewonnene Vertrautheit mit dem Tiefdruck hat Bücking immer mehr vom reproduktiven Ansatz des reinen Auflagendrucks weggeführt hin zu einer bildnerisch produktiven, auf Ausdrucksvarianten zielenden Anlage des Druckprozesses. Die besondere Eigenschaft seines künstlerischen Mediums KUPFERSTICH sieht er nicht in der Druckauflage der gravierten Kupferplatte ausgeschöpft, sondern erst im Anspruch, durch variierende Abzüge und immer neue Kombinationen der Druckelemente Wahrnehmung und künstlerischen Ausdruck ständig im Fluss zu halten.

Die Lösung einer selbst gestellten künstlerischen Aufgabe führt in seinen aktuellen Arbeiten kaum noch zu einer "abschließenden Bildfassung", vielmehr zu einer Folge von Bildvariationen, die, zwar jeweils für sich ausformuliert, doch erst im verweisenden Miteinander ihre ganze künstlerische Spannweite entfalten. Die Variationsserie holt uns Betrachter näher ins Zentrum kreativer Prozesse als es das herausgelöst für sich stehende Einzelwerk je vermöchte.
Doch Bücking handelt hier nicht nur aus didaktischer Rücksicht, die uns Betrachtern unmittelbar offenlegt, wie die Arbeitsschritte der Variationen ineinander greifen, ihre Ausdruckskomponenten austauschen und in wechselnder Konstellation zusammen klingen lassen.
In der Arbeit an Variationen ist in erster Linie ein künstlerisches Bekenntnis, eine Definition des eigenen Standortes ausgedrückt: nur durch Transformationen kann Kunst Erkenntnis vermitteln.

Bücking lässt sich gern von Alltagsfundstücken aus seinem städtischen Umfeld anregen. Die in den Fundstücken aufgehobene Zeit, ihre Gebrauchs- und Verbrauchsspuren, ihr aufgelöstes Funktionieren, ihr räumliches und zeitliches Ausgesetztsein faszinieren ihn.
Das Fundstück ist irgendwo liegen geblieben, vergessen, weggeworfen, weil es seinen materiellen und praktischen Wert verloren hat; sein nun aufscheinender neuer Wert ist ein poetischer - für den, der gestalterisch umdeutend und umformend damit handelt.
Was macht das zufällige Fundstück zum zugefallenen Focus künstlerischer Arbeit?

Der Augenblick, in dem der Künstler auf der Straße den Rest einer zerknautschten Pappschachtel aufliest und in den Händen abwägt, ist schon gestimmt von einer zwar noch ungenauen, kaum benennbaren, aber sinnlich und assoziativ verdichteten Berührung: ein vages Gespür für eine Dimensionserweiterung zurück in die "Geschichte" dieses Fundstücks, aber auch schon, in die Zukunft gerichtet, die Ahnung eines eigenen gestalterischen Zugriffs auf dieses Ding.
Dass überhaupt ein Finden stattfindet, ein Innehalten, eine sprunghafte Zuwendung, ist der unbewussten Kopplung zu danken, in der sich bestimmte Eigenschaften des Fundstücks und die aktivierte Wahrnehmung gleichsam zu einem Stromkreis schließen.
Der Reiz des Fundmoments liegt in der von hier ausstrahlenden Offenheit: was könnte daraus entstehen? Antworten hierauf brauchen vielleicht Monate oder Jahre. Fundstücke eines Künstlers existieren weniger für sich als systematisch eingegliederter Baustein einer Sammlung, wirklich lebendig werden sie erst als Dialogpartner während der Arbeit an der Umformung und Übertragung.

Zunächst in zeichnerischen Studien werden die Eigenschaften des Fundstücks ertastet, als grafische Form objektiviert. Sie übersetzen die plastisch-räumlichen Ausbuchtungen und Überlappungen, sie decken den Grad der Verformung der ursprünglich stereometrischen Konstruktion auf; bei dieser Übersetzung verzichtet Bücking entschieden auf stoffliche Hinweise zur Materialbeschaffenheit. Illusionistischer Ausdruck wird zurückgedrängt. Linien und Schraffuren suchen wachsenden Abstand zur beobachteten Oberfläche des Gegenstandes, sie dringen ein, zerlegen, fragmentieren. Die Zeichenspur versickert in der Bildfläche.

Die Entwicklung der Formen bleibt in einem Schwebezustand: Hinweise auf den übertragenen Gegenstand sind immer zugleich autonome Form, Verdichtung, Grenze oder Richtung auf der Bildfläche. So wird aus dem aufgelesenen Objekt ein Formereignis, das in sich die Ausdruckskraft besitzt, viele weitere Umgestaltungswege anstoßen zu können.

Bückings früheres Geigenspiel, das Musizieren im Streichquartett und Orchester, scheint in den neueren Serien anzuklingen, wenn er seine Bildfindung in Analogie zu musikalischen Formen, vor allem zum Variationssatz entwickelt.
Die Art und Weise, wie er ein Thema – z.B. das Motiv der Schachtel – vorstellt und bildnerisch stetig verwandelt, zeigt ein einfallsreiches, hochsensibles Komponieren.
Das wechselnde Repertoire der Bildelemente wirkt zunächst noch überschaubar: ausgeschnittene Druckplatten ohne Gravur – Gegenüberstellung der bewegten Plattenkonturen und flächigen Farbwerte im Blinddruck – gestochene Gegenstandsübersetzungen voller Richtungs- und Hell-Dunkel-Qualitäten – Zerlegen der Gegenstandsstruktur – im Tiefdruck fixierte Collageelemente mit wechselnden Farbqualitäten, kopierten Gegenstandszitaten oder ausgeschnittenen Formhinweisen – Strukturen der Handzeichnung über gedruckten Bildteilen.
Doch im Zusammenklang dieser Bildelemente, die nie nur in "rauschender Überlagerung" versammelt sind, sondern stets in ihrer charakteristischen Eigenschaft gegen- und miteinander gestimmt wirken, setzt ein reich differenzierter Ausdruck ein.

Die konzeptionelle Strenge, die Beherrschung der Mittel, die Vielfalt der Formerfindungen, gewonnen aus bewusster Beschränkung, erinnert an musikalische Variationen mit ihren harmonischen, melodischen und rhythmischen Abwandlungen eines Themas.
Fast möchte man die Zeitdimension, in welcher erst Musik sich realisieren kann, die aber der Werkstruktur der Bildenden Kunst in der Regel verschlossen bleibt, auch hier in der übergreifenden Komposition solcher Bildvariationen aufnehmen.
In der Tat setzt vor der ausgebreiteten Bildserie von Variationen so etwas wie ein Wahrnehmungsfluss ein. Dieser wird im Wiedererkennen verwandter oder identischer Elemente beschleunigt, im Nachprüfen der individuellen Eigenschaften beruhigt. Doch im Gegensatz zur linearen Wahrnehmungsrichtung in der Musik lässt es die Bildserie zu, innezuhalten, zu springen, umzukehren oder in der simultanen Gesamtaufnahme ein Gespür zu bekommen für den künstlerischen Spielraum der Variationen.
Dieser Spielraum erscheint nicht von außen, von vorgegebenen Projektregeln bemessen, sondern bestimmt vom inneren Gestaltungsproblem, mit jedem Bild die Spannungsverhältnisse der Bildelemente neu auszubalancieren.

Beim Zeichnen wie beim Gravieren der Kupferplatte hält Bücking den Gegenstand im Blick.
Seine Form und Materialeigenschaft sind dem Künstler unverzichtbare ästhetische Reibungsfläche; zugleich aber gehören das situative und zeitliche Umfeld ebenso zur Existenz des Gegenstandes, insbesondere für einen Künstler, der in den Gegenstand eindringen will wie in die Schichten einer Person.
Was leisten künstlerische Wahrnehmung und Gestaltung? Bücking folgt hier schon lange der Gedankenspur von Robert Musil:

"Der Eigen-Sinn der Dinge zerbricht, der Nachbar-Sinn tritt hervor. An die Stelle der kausalen Beziehungen tritt die Wechselwirkung der Reize. Die Welt der Ziele, Zwecke, Schlussfolgerungen schlägt um in die Welt der Analogien, Resonanzen und Echotöne."

Die besondere Leistung künstlerischer Bilder, solche überraschenden Kopplungen in eine herausfordernd innovative Form zu übersetzen, betont Gottfried Böhm:

"Bilder funktionieren nicht wie starre Spiegel... sie sind keine Doubles. Das plane Abbild ist der banalste, wenn auch verbreitetste Ausdruck einer ganz leeren Bildlichkeit. Von wirklichen Bildern erwarten wir dagegen nicht nur eine Bestätigung dessen, was wir schon wissen, sondern einen Mehrwert, einen (wie es H.G. Gadamer formulierte ) Seins-Zuwachs."

Dieser Seins-Zuwachs bedeutet für Bückings Anspruch der Transformation, Werk und Betrachter finden sich auf einer neuen, komplexeren Ebene, die Entdecken statt Wiedererkennen bietet. Dort wird das Sichtbar-Machen als künstlerische Leistung vom Betrachter als Erkenntnisgewinn angenommen.

Klaus Bodemeyer, Mai 2013